Reisen und Freizeit
Drei ungleiche Schwestern
Hoch über dem Glasdach spannt sich im weiten Bogen eine filigrane Fußgängerbrücke, ein junges Pärchen lustwandelt darüber und bewundert die Skyline Warschaus im goldenen Abendlicht. Ein zärtliches Küsschen wird getauscht – als gebühre es dem Panorama. Der beeindruckende Dachgarten der neuen Universitätsbibliothek ist ein angesagter Hotspot in der polnischen Hauptstadt. Die Grünoase mit unterschiedlichster Vegetation gilt als einer der größten und schönsten Dachgärten Europas.
Warschau mauserte sich seit der Fußball-EURO 2012 immer mehr zur Touristenstadt, nach und nach weicht der Sowjetmief einem Stadtbild mit 1.000 Gesichtern. „Warschau ist im Aufbruch und erfindet sich regelmäßig neu“, erklärt Guide Antoni Władyka. Und er stellt klar: „Es gibt nicht ein Stadtzentrum, sondern viele – und laufend poppen weitere auf.“ Bei Touristen besonders beliebt sind die Alt- und Neustadt (Stare und Nowe Miasto) mit ihrer erschütternden Historie. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren 95 Prozent der Gebäude aus Barock und Renaissance dem Erdboden gleich gemacht. Die detailgetreue, authentische Rekonstruktion wurde mit dem Titel UNESCO Weltkulturerbe geadelt – weltweit einzigartig für Denkmalschutz und Wiederaufbau. Ein „Muss“ ist auch der Königsweg (Krakowskie Przedmieście), die Prachtund Flaniermeile vom Schlossplatz Richtung Süden.
Die jüngsten urbanen Zentren begeistern alle Architekturfans, denn ein freizügiges Baurecht lässt einen kreativen Mix verschiedenster Epochen und Stile zu. Im Trend liegt der Bezirk Wola um den monströsen Kulturpalast (ein verhasstes „Geschenk“ Stalins). Hier prägen Wolkenkratzer namhafter Stararchitekten die hypermoderne Skyline – etwa der „Varso Tower“ (Foster + Partner) oder „Złota 44“ von Daniel Libeskind. Angesagt ist auch das einstige Armenviertel Powiśle zwischen dem Fluss Weichsel und der eingangs erwähnten neuen Uni. Mit der Neugestaltung der Uferpromenade gelang es, die Weichsel in das städtische Leben zu integrieren. Neue Landmarks sind das Museum für moderne Kunst, das Wissenschaftszentrum Kopernikus sowie die brandneue Fußgängerbrücke hinüber zum grünen Flussufer.
Kontrastreich. Vorbei die Zeit, als Warschau im touristischen Schatten der herausgeputzten Streber-Schwester Krakau stand. Die alte Königsstadt im Süden Polens atmet Geschichte pur und begeistert mit ihrer originalen Altstadt (Krakau blieb im Zweiten Weltkrieg verschont und ist UNESCOWeltkulturerbe), dem Marktplatz Rynek Główny mit den mächtigen gotischen Tuchhallen, der Marien-Kirche, zahlreichen mittelalterlichen Bürgerhäusern, Adelspalästen und dem Wawelberg samt Königsschloss. Das Zentrum Krakaus präsentiert sich schön wie ein begehbares Bilderbuch. Kazimierz, das einstige jüdische Ghetto, erzählt einen traurigen Abschnitt der Stadtgeschichte. Heute reihen sich (koschere) Restaurants, Jazzclubs, ausgeflippte Szenelokale, Vintageläden und Kunstgalerien aneinander.
Krakau ist Stadt der Vergangenheit, Warschau die der Gegenwart, und Łódź die der Zukunft – heißt es in Polen. Łódź, die einst reiche Hochburg der Textilindustrie, erlebte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – als die Produktion mehr und mehr nach China ausgelagert wurde und die veralteten Fabriken zusperrten – einen unglaublichen Niedergang. Hunderttausende verließen die heute viertgrößte Stadt Polens (670.000 Einwohner). Noch zu Beginn der 2000er-Jahre lag die Arbeitslosenquote bei gut 20 Prozent. Doch plötzlich erwachte die Stadt aus Schockstarre und Dornröschenschlaf und eine kreative Szene begann, ihr neues Leben einzuhauchen. Im Mut der Verzweiflung wurde einfach experimentiert.
Dieser Prozess der Revitalisierung präsentiert postindustrielle Geschichte neu: Noch immer dominieren Backstein-Fabrikshallen, schlichte Arbeitersiedlungen und Villen einst reicher Textilmagnaten das Stadtbild. Doch wo früher gewebt wurde, sind heute Galerien, Designshops, Restaurants, Einkaufszentren, Wohnungen und Hotels untergebracht. Ein bunter Stilmix ist charakteristisch für die sehr grüne Stadt, dazwischen regiert immer noch der Verfall. „Wenn nichts zusammenpasst, ist es perfekt – und typisch Łódź“, lacht Krzysztof Olkusz. Ein spannendes Städteziel, das erst erobert werden möchte.
Einen mondänen Wandel erlebte Manufaktura, einst größtes Textilwerk und Stadt in der Stadt. Meisterhaft renoviert präsentiert sich der gewaltige Backsteinblock heute als gigantisches Einkaufs- und Vergnügungszentrum. Statt Webstühlen gibt es nun Betten: Gäste des Hotels Vienna House Andel’s erleben zum wohlfeilen Preis eine gelungene Symbiose aus Industriecharme und grandiosem modernem Design. Im obersten Stockwerk überragt ein auskragender Swimmingpool das Areal. Früher, in etwas kleinerer Form, war er das Reservoir für Löschwasser. Heute dient er der Lebensfreude.
-CJB